Sechs Jahre sind vergangen seit den Ereignissen auf der Isla Nublar, von denen die
Öffentlichkeit niemals etwas erfahren hat, da alle Überlebenden zum Schweigen
verpflichtet wurden. Den nur knapp dem Tod entronnenen Mathematiker Ian Malcolm hat es
inzwischen ans Santa Fe Institute
verschlagen, wo er sich einem neuen Forschungsgebiet, der Komplexitätstheorie,
verschrieben hat. Die anderen sind in alle Winde verstreut, widmen sich ebenfalls neuen
Aufgaben oder sind inzwischen verstorben. Das Leben geht scheinbar wieder seinen normalen
Gang, zumindest äußerlich geben alle sich die größte Mühe, sich nicht anmerken
zu lassen, wie sehr sie von den Ereignissen im Jurassic Park geprägt wurden.
Diese scheinbare Normalität findet jedoch ein jähes Ende, als durchsickert,
dass an
der Küste von Costa Rica immer wieder Kadaver von seltsamen Tieren angeschwemmt werden,
die so merkwürdig sind, dass die Behörden sich befleißigen, sie mit der Begründung der
Seuchengefahr umgehend verschwinden zu lassen. Der ebenfalls am Santa Fe Institute
weilende Paläontologe Richard Levine will sich mit dieser Erklärung jedoch nicht
zufrieden geben: Er ist überzeugt, dass seine bevorzugten Forschungsobjekte - die
Dinosaurier - in einem abgelegenen Winkel der Welt überlebt haben und plant eine
Expedition, für die er Malcolm als Begleiter ausersehen hat. Er hat jedoch nicht mit
dessen kategorischer Ablehnung und scheinbarem Desinteresse gerechnet. Obwohl es ihnen
gelungen zu sein scheint, die Herkunft der Kadaver auf eine Inselgruppe vor der Küste von
Costa Rica einzugrenzen, ist der Mathematiker nach wie vor skeptisch und nicht gewillt,
sich Hals über Kopf in ein neues, ungewisses Abenteuer zu stürzen. Die wahren Gründe
dafür verschweigt er seinem Freund jedoch wohlweislich. Levine macht sich also zunächst
allein auf den Weg, und kurz darauf empfängt Malcolm eine verstümmelte Botschaft per
Satellitentelefon, die er als Notruf interpretiert. Von diesem Moment an überstürzen die
Ereignisse sich förmlich und Levines Freunde brechen zu einer Rettungsaktion auf, obwohl
sie keine Zeit mehr haben, ihre Ausrüstung auf Feldtauglichkeit zu überprüfen. In Costa
Rica soll noch Sarah Harding zu ihnen stoßen, eine auf Hyänen und Löwen spezialisierte
Verhaltensforscherin, die zu dieser Zeit auf dem afrikanischen Kontinent weilt und die mit
Ian Malcolm seit dessen Unfall eng befreundet ist.
Bei ihrer Ankunft auf der Isla Sorna, einer von fünf Inseln, die unter dem Namen
"Las Cinco Muertes" unter den Einheimischen bekannt sind, stoßen sie auf Levines verlassenen, zerfetzten Rucksack, der darauf schließen lässt, dass
er von
irgendetwas angegriffen wurde, von Levine selbst finden sie zunächst jedoch keine Spur.
Dafür treffen sie alsbald auf die ersten Dinosaurier, die Levines These von einer
vergessenen Welt zu bestätigen scheinen.
Michael Crichton hat einmal in einem Interview gesagt, er hätte
VERGESSENE WELT eigentlich nie schreiben wollen, sei aber von seinen Lesern förmlich zu
einer Fortsetzung des Thrillers DINO PARK gedrängt worden.
Streckenweise merkt man dies dem Buch auch stark an, selbst wenn es kaum weniger spannend
ist als der erste Teil. Der Zauber des Neuen, Unbekannten, den DINO PARK
ausübt, ist
so ziemlich dahin, da der Leser im Grunde schon ziemlich genau weiß, was ihn erwartet.
Auch wenn Crichton in diesem zweiten Teil eine Reihe "neuer" Dinosaurier
einführt, macht er sich nicht mehr die Mühe, sie in allen Einzelheiten zu beschreiben.
Als Leser muss man weitaus mehr Fantasie und Eigeninitiative aufbringen, um diese
fremdartigen Wesen wirklich vor seinem geistigen Auge zu sehen. Die Geschichte selbst ist
zwar spannend, birgt aber relativ wenige wirkliche Überraschungen, auch wenn außer Ian
Malcolm fast alle Charaktere neu sind.
VERGESSENE WELT krankt, wie so viele andere "Nachfolgebücher" auch, am
Fortsetzungssyndrom. Schon auf den allerersten Seiten wird der Leser mit einem - wenn auch
verzeihlichen - Anachronismus konfrontiert: Der tot geglaubte Malcolm ist wieder
"auferstanden", allerdings muss man Crichton zugute halten, dass er sich sehr
viel Mühe damit gegeben hat, diesen Tatbestand so glaubwürdig wie möglich zu erklären.
Wer den zynischen, ewig schwarz sehenden (und tragenden) Mathematiker in DINO PARK
besonders geschätzt hat, wird diese Ungereimtheit mit einem Lächeln übergehen, und in
der Tat wäre VERGESSENE WELT ohne seine Gegenwart wahrscheinlich unlesbar bzw. wohl gar
nicht erst geschrieben worden. Ian Malcolm, der im ersten Band nur eine unbequeme, wenn
auch extrem sympathische Randfigur war, ist im zweiten Teil zum (Anti)Helden avanciert, um
den sich der Handlungsfaden spinnt.
Unter den neu eingeführten Charakteren heben sich vor allem Sarah Harding und Richard
Levine hervor. Letzterer ist ein entsetzlich pedantischer, arroganter, reicher Schnösel,
den wohl niemand gern zu Hause hätte. Er besticht lediglich durch seine Intelligenz und
sein überragendes Wissen, zerrt aber ansonsten gewaltig an den Nerven des Lesers, der
sich manches Mal wünscht, in die Handlung eingreifen und ihm einmal gehörig die Meinung
sagen zu können. Sarah Harding ist der ruhende Pol zwischen den beiden ungleichen
männlichen Hauptfiguren. Sie hat etwas, was den beiden Männern völlig abgeht, nämlich
Sinn für Praktisches und für Realität. Nebenbei hat sie als alleinstehende Frau
anscheinend folgenden Grundsatz: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner, und ganz sicher
kein Mann. Für den weiblichen Leser ist es eine Wohltat, die klassischen Rollen hier
einmal vertauscht zu sehen, da das so genannte "starke Geschlecht" sich
letztendlich als ziemlich schwach erweist. Sarah hat für alles eine praktische Lösung
und vor allem ein Durchhaltevermögen, das zumindest zweien ihrer männlichen Begleiter
ziemlich abgeht. So manchem männlichen Leser wird sie wahrscheinlich als
"Mannweib" erscheinen, aber wer so empfindet, sollte sich einmal fragen, warum
ein Mann in einer solchen Rolle immer fraglos akzeptiert wird, eine Frau jedoch nicht.
Alle Figuren sind wie bei DINO PARK leicht überzeichnet, aber in einem Actionthriller
will man schließlich keine Charaktere, die an der ersten Flussbiegung schlappmachen.
Auch wenn VERGESSENE WELT leider nicht die hohe Qualität von DINO PARK erreicht, ist
es trotzdem ein Buch, das für die Fans von Michael Crichton einiges zu bieten hat, nicht
zuletzt, weil er auch diesmal geschickt reale Schauplätze wie das Santa Fe Institute oder
Passagen über wissenschaftliche Themen eingebunden hat. Wenn man nach der Lektüre z.B.
zu einem Buch über die Komplexitätstheorie greift, dann hat VERGESSENE WELT trotz allem
seinen Zweck nicht verfehlt, nämlich die Fantasie zu beflügeln, zum Nachdenken
anzuregen und die Neugier auf einen neuen, vielleicht vorher unbekannten Themenkreis zu
lenken.
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