Stephen King
Misery
"Sie"
Diese Kritik bezieht sich auf das amerikanische Original.
Monikas Meinung:
Paul Sheldon, seines Zeichens Bestsellerautor, hat etwas zu feiern:
Nachdem er in seinem zuletzt veröffentlichten Buch Misery Chastain,
Heldin seiner historischen Seifenoper-Serie, mit Hochgenuss ins Jenseits
befördert hat, hegt er die Hoffnung, dass sein gerade beendetes
Manuskript eines gesellschaftskritischen Romans ihm endlich den
ersehnten Literaturpreis einbringen wird. Der Champagner fließt
reichlich, und auf dem Weg zu seinem Verleger kommt er im Schneesturm
von der Straße ab. In diesem verlassenen Winkel Colorados ist es nicht
sonderlich ratsam, im Winter zu verunglücken, da man längst erfroren
sein würde, wenn endlich jemand vorbeikäme und Hilfe holen könnte.
Aber Sheldon hat Glück, allerdings denkt seine Retterin nicht daran,
ihn ins nächste Krankenhaus zu bringen, sondern nimmt ihn kurzerhand
mit in ihr Haus und quartiert ihn im Gästezimmer ein. Dass sie früher
einmal Krankenschwester war und er diesem Umstand sein Leben verdankt,
erfährt Sheldon ca. zwei Wochen später, als er endlich wieder
einigermaßen klar denken kann. Bis er darauf kommt, dass sie
tatsächlich nicht alle Tassen im Schrank hat, dauert es allerdings noch
eine Weile, wenn auch nur eine kurze Weile.
Zunächst stellt Annie Wilkes sich als sein "allergrößter
Fan" vor, der alle seine Bücher gelesen hat, einige davon
mehrmals. Wir kommen der Sache näher, denn natürlich hat sie die
Misery-Bücher wieder und wieder gelesen. Als sie nicht lange nach
Sheldons Unfall mit dem neuesten Band heimkommt, der endlich als
Taschenbuch erschienen ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre
anfängliche Begeisterung in Wut und blanken Hass umschlägt. Dass Paul
Misery am Schluss sterben ließ, gefällt ihr nicht, nein, das gefällt
ihr überhaupt nicht ... Für Sheldon beginnt eine Zeit des Schreckens,
wie er sie sich in seiner lebhaftesten Fantasie nicht hätte ausmalen
können. Noch lange nicht wieder hergestellt, zwingt Annie ihn, ein
neues Buch zu schreiben: Miserys Rückkehr. Die Flucht in Miserys Welt,
die er selbst erschaffen hatte, auch wenn er nicht lange zuvor
überglücklich war, ihr endlich entflohen zu sein, bewahrt Paul in den
folgenden Monaten davor, selbst verrückt zu werden. Annie indessen
scheint immer tiefer in ihrer Geisteskrankheit zu versinken ...
Mit SIE ist Stephen King ein Psychothriller gelungen, der völlig
ohne fantastische Elemente auskommt und trotzdem unverkennbar ein
"King" ist, und zwar einer der besten. Dieses
Zwei-Personen-Stück entfaltet von der ersten bis zur letzten Seite ein
Spannungspotential wie kaum ein anderes seiner Bücher, was vielleicht
daran liegt, dass die Geschichte etwas so Reales hat. Man fragt sich, ob
der Autor hier vielleicht über seinen schlimmsten Alptraum einen Roman
geschrieben hat: Ein Bestsellerautor wird von einem übergeschnappten
Fan gefangen gehalten und gefoltert, weil er den Erwartungen nicht
entsprochen hat. Gräßliche Vorstellung! Falls dies der Fall sein
sollte, dann wäre es wünschenswert, dass Stephen King öfters mal
einen Alptraum hat, der ihn zu einer guten, bis zum Schluss kohärenten
Geschichte inspiriert. Dass der Paul Sheldon im Roman aus seinem
Erlebnis schließlich noch Profit geschlagen hat, sollten wir ihm nicht
verdenken: Geschäft ist Geschäft. Und die meisten Leser sind
glücklicherweise in der Lage, Wirklichkeit und Fiktion auseinander zu
halten.
New English Library, London, 1988
ISBN 0-450-41739-5
Deutsch: "Sie"
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