Philip Kerr
Esau
Diese Kritik bezieht sich auf das englische Original.
Monikas Meinung:
Die Geschichte der Menschheit hat für viele Leute etwas Faszinierendes, ebenso oder
mehr noch als die Geschichte des Lebens auf der Erde schlechthin. Zu viele Lücken klaffen
zwischen den einzelnen Fossilienfunden, auch wenn heute nicht mehr vom sog. "Missing
Link" die Rede ist. Woher kommen wir? Hat es immer nur eine einzige Spezies
"Mensch" gegeben? Ist der Neandertaler nur eine Unterart der Art Homo sapiens
oder aber eine eigene Art, die sich parallel zum Homo sapiens sapiens entwickelt
hat? Und könnte es gar eine völlig unbekannte Art Mensch geben, die irgendwo auf der
Welt, z.B. in den eisigen Höhen des Himalaya, seit der letzten Eiszeit überlebt hat?
Seit jeher gibt es von dort immer wieder Berichte über sog. Schneemenschen oder Yetis.
Viele wollen sie gesehen haben, Beweise sind bislang jedoch nicht bekannt.
Philip Kerr hat in seinem Roman das Thema "Yeti" aufgegriffen - ein Stoff,
der mich auf ein spannendes Lesevergnügen im Stile von Michael Crichton hoffen ließ.
Alles beginnt auch recht vielversprechend: Der Bergsteiger Jack Furness wird bei der
(illegalen) Besteigung des Machhapuchare in Nepal von einer Lawine überrascht. Während
sein Begleiter den Tod findet, kann er sich in eine Höhle retten, wo er einen gut
erhaltenen, fossilen Schädel eines Frühmenschen findet. In der Annahme, dieser wäre das
ideale Mitbringsel für seine Freundin, eine Anthropologin an der University of California
in Berkeley, schmuggelt er ihn außer Landes. Die Untersuchung ergibt, daß es sich dabei
um den Schädel einer bisher unbekannten Art handelt, ein Jahrhundertfund, von dem jeder
Paläoanthropologe träumt. Und mehr noch: Es scheint sich um eine Art zu handeln, die dem
heutigen Menschen in jeder Hinsicht sehr nahe ist, was sich durch DNA-Analysen auch
bestätigt. Das Alter des Schädels deutet zudem darauf hin, daß diese Art Mensch
vielleicht gar nicht ausgestorben ist, sondern bis heute überlebt hat, verborgen in den
unzugänglichen Bergketten des Himalaya. Eine Expedition wird auf die Beine gestellt, um
der Sache auf den Grund zu gehen.
Bis hierher ließ das Buch kaum einen Wunsch offen, fiktive Geschehnisse werden
geschickt mit Exkursen in die (Paläo)Anthropologie verknüpft, die Spannung ist auf ihrem
Höhepunkt. Der weitaus größere Teil handelt jedoch von der Expedition in den Himalaya,
und hier begeht Philip Kerr den gleichen Fehler wie John Darnton in seinem - ebenfalls
durchaus spannenden - Buch "Neandertal": Man bekommt immer mehr den Eindruck,
ein Drehbuch für einen Actionfilm zu lesen. Das mag ja noch recht unterhaltsam sein,
weitaus schlimmer ist jedoch, daß die Charaktere durchweg blaß bleiben und nur
angerissen werden, einmal abgesehen vielleicht von der Hauptfigur Dr. Stella Swift, aber
auch hier hätte mehr getan werden können. Die dramatischen Geschehnisse in Nepal lassen
den Leser eher kalt, keiner der Charaktere hat so viel Profil, daß man sich Gedanken
darüber macht, ob er die Reise überleben wird. Anteilnahme erwecken lediglich die Yetis,
in der gleichen Weise wie jede andere bedrohte Art auf der Erde. Nicht mehr und nicht
weniger.
Ein Buch mit vielversprechenden Ansätzen, das sein Ziel, den Leser zu fesseln,
letztendlich verfehlt. Man sollte es sich aus einer Bibliothek ausleihen oder auf die
Taschenbuchausgabe warten. Die gebundene Ausgabe zu kaufen lohnt sich kaum, da es keines
jener Bücher ist, die man immer wieder von neuem zur Hand nimmt, um sich in eine fremde
Welt entführen zu lassen.
Deutsch: Esau
Erschienen 1997 bei Wunderlich
ISBN: 3-8052-0607-0
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